Endspiel – Intensiv
Das "Prinzip der zwei Schwächen"

Unter den strategischen Grundgedanken der Endspiellehre scheint mir das Prinzip der zwei Schwächen eine besonders herausragende Bedeutung zu haben. Es lehrt uns weniger ein konkretes Gewinnverfahren, als viel mehr eine Denkmethode, die in Endspielen von unterschiedlichstem Typ wertvoll sein kann.
Besitzt die überlegene Seite im Endspiel nur einen leichten Vorteil, so wird es dem Gegner oft möglich sein, sich erfolgreich zu verteidigen. Wenn wir hingegen dem Gegner eine zweite Schwäche schaffen können, sollte dies zum Gewinn reichen.
Der Begriff der "Schwäche" ist dabei recht weit gefasst. Jeder Vorteil der einen Seite ist ein Nachteil (also eine Schwäche) für die andere.
Die Nichtbeachtung dieses Prinzips bzw. der damit verbundenen Chancen hat uns schon viele halbe oder ganze Punkte gekostet. Als instruktives Beispiel möchte ich auf meine Verlustpartie gegen Solomon Rabajew verweisen, die ich in Trainingseinheit 23 ausführlich besprochen habe.

Heute wollen wir einige Meisterpartien sehen, die in Lehrbüchern der Endspielstrategie immer wieder als Musterbeispiele für unser Thema dienen.

Einführung

Blicken wir zunächst auf ein denkbar einfaches Beispiel, das uns die Bedeutung zweier Schwächen deutlich vor Augen führt.

Bild Bild Bild

Im linken Diagramm hat Schwarz zwei Schwächen zu verteidigen. Weiß besitzt einen Mehrbauern, außerdem droht der weiße König den Bauern b6 zu erobern. Dann würde Weiß nach dem bekannten Modell "entfernter Freibauer" gewinnen. Sucht man im Wortsinne nach "Schwächen", so wären dies einerseits die Schlüsselfelder vor dem Freibauern (e6, f6, e7, f7) und andererseits das Feld c6 zur Verteidigung des b-Bauern. Schwarz wird es nicht schaffen, beide Schwächen zu verteidigen. Die Beweisführung sei diesmal dem Leser selbst überlassen.

In den beiden übrigen Stellungsbildern habe ich jeweils eine der beiden Schwächen entfernt. Nun gibt es für Weiß bei richtiger Verteidigung keinen Gewinnweg mehr. Auch hier sei es dem Leser überlassen, sich davon zu überzeugen.

Quellen

Alle guten Bücher, die sich des Themas "Endspielstrategie" angenommen haben, enthalten auch ein ausführliches Kapitel über das Prinzip der zwei Schwächen. Meine Quellen und zugleich Empfehlungen sind:

Gerade unsere Beispielpartien werden in diesen Werken immer wieder unter verschiedenen Aspekten analysiert.

1. Partie: Faibissowitsch – Westerinen, 1969

In dieser Partie erkennt Weiß zwei Schwächen in der gegnerischen Bauernstruktur. Er zwingt den Gegner zur Verteidigung beider Problemstellen und nutzt schließlich die Überlastung der defensiven Ressourcen aus. Bei der genaueren Analyse werden wir allerdings auch eine kleine Überraschung erleben.

Erkennen und Belagern der beiden Schwächen

Sehen wir zuerst auf die Anfangsphase des Endspiels. Weiß erkennt zwei Bauernschwächen und attackiert sie. Schwarz kann zunächst an beiden Fronten gegenhalten.
Faibissowitsch – Westerinen, Vilnius 1969

Die schnelle Umgruppierung – zu schnell für Schwarz

Im Moment kann Schwarz noch beide Schwächen verteidigen. Doch damit sind all seine Figuren an defensive Aufgaben gebunden. Mit einer schnellen Umgruppierung stellt Weiß den Gegner vor unlösbare Probleme.
Faibissowitsch – Westerinen, Vilnius 1969

Die Fortsetzung der Partie

Weiß hat nun einen starken Freibauern auf der a-Linie. Dieser Vorteil garantiert ihm den Sieg.
Faibissowitsch – Westerinen, Vilnius 1969
Dieser Sieg war folgerichtig. Daran ändert auch das Urteil der Geschichte nichts. Doch weder die Spieler von 1969 noch die ersten Kommentatoren konnten ihre Züge und Ideen mit Computerhilfe überprüfen. Moderne Technik indes enthüllt ein pikantes Detail.

Eine überraschende Entdeckung im 3. Jahrtausend

Soweit ich weiß, war es der Saarländer Reinhold Ripperger, der in seiner Arbeit als Erster auf eine Ungenauigkeit der bisherigen Analysen hinwies.
Faibissowitsch – Westerinen, Vilnius 1969
Das ist schon faszinierend. In einer alten Partie, die in viele Lehrbücher Eingang fand, entdeckt man eine wichtige Widerlegung des Partiezuges. Zum Glück lässt sich das Malheur reparieren und die prinzipielle Einschätzung bleibt bestehen – so gesehen sogar eine schöne Bestätigung für das Denkschema "Spiel auf zwei Schwächen".

2. Partie: Aljechin – Sämisch, 1925

Der frühere Weltmeister zeigt uns, dass man manchmal erst eine zweite Schwäche im gegnerischen Lager schaffen muss.

Die zweite Schwäche wird geschaffen

Beim Einstieg in dieses Endspiel ist die erste schwarze Schwäche sehr leicht zu erkennen: Weiß verfügt über einen Mehrbauern, der zudem als Freibauer bereit steht, sich in eine Dame zu verwandeln. Indes würde der sofortige Vormarsch dem Gegner unnötige Chancen eröffnen. Doch eine zweite Schwäche ist nicht zu sehen…
Aljechin – Sämisch, Baden-Baden 1925

Damentausch im richtigen Moment

Nun hat Schwarz auf h7 eine zweite Schwäche. Der König wird an die Verteidigung dieses Bauern gebunden. Weiß muss jedoch sehr aufmerksam spielen, damit Schwarz seine Schwäche nicht auflösen kann.
Aljechin – Sämisch, Baden-Baden 1925

Der Rest ist einfach

In wenigen Zügen hat Aljechin eine Partie mit nur geringem Vorteil in eine technische Gewinnstellung verwandelt. Der Rest ist vergleichsweise einfach. Schwarz kann die beiden – nun sehr offensichtlichen – Schwächen nicht verteidigen.
Aljechin – Sämisch, Baden-Baden 1925




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Thomas Binder, 2010