Jeder Abtausch verändert die Welt
Einführung in die Schachstrategie – Folge 15
Psychologische Initiative
Was ist eigentlich…
Deutschland ist Europameister
Matt in 300 Zügen
Ich gebe zu, die Überschrift passt nicht ganz zum seriösen Anspruch dieses Schachtrainings. Doch es hilft, sich diese alte Wahrheit vor einem
Abtausch ins Gedächtnis zu rufen. Auf den ersten Blick scheint der Abtausch gleichwertiger Figuren keine große Angelegenheit zu sein. Entsprechend leicht
geht er uns meist von der Hand. Aber schon oft hat sich ein Spieler unmittelbar(!) danach in einer völlig veränderten Stellung wiedergefunden, die eben
abgetauschte Figur schmerzlich vermisst.
In Trainingseinheit 49 haben wir ein Turmendspiel analysiert, das nach Abtausch zum Bauernendspiel plötzlich eine ganz andere Chancenverteilung erfuhr.
Wir wollen einige ähnlich drastische Beispiele betrachten.
Tragischer Held unserer ersten Partie ist der junge Potsdamer Spieler Wiede Friedrich. Ich konnte seine gesamte Schachentwicklung in Kindheit und
Jugend mit Sympathie beobachten. Mit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft U14 erreichte er seinen bislang größten Erfolg. Zwei Jahre später musste er
in der U16-Meisterschaft bitteres Lehrgeld bezahlen.
Noe – Friedrich, Deutschland 2011
Besonders trifft die einleitende Schlagzeile natürlich auf Endspielsituationen zu. Hier ändert der Abtausch einer Figur den Charakter der Stellung meist
grundsätzlich – siehe dazu auch den Hinweis im obersten Abschnitt. Entscheidungen für einen bestimmten Abtausch sind gerade hier unumkehrbar und
können gravierende Folgen für den Ausgang der Partie haben.
Das folgende Beispiel zeigt gleich zwei kritische Situationen:
Ripperger – Jochem, Deutschland 2003
Bei der Betrachtung der Partie konnte ich mich auf ausführliche Kommentare des Siegers stützen.
Im nächsten Fall hätte sich Schwarz ganz bequem ein Remis sichern können, wenn er die Damen auf dem Brett gelassen hätte. Nach deren Tausch gerät er
von Zug zu Zug mehr in Schwierigkeiten.
Grün – Darga, Deutschland 1982
Übrigens musste ich gerade bei diesem Thema einige der vorgesehenen Beispiele verwerfen. Im Lichte der Computer-Analyse erwies sich die Einschätzung etablierter Lehrbücher – vorwiegend bei sowjetischen und russischen Autoren – als falsch. Nehmen wir das mal als Beleg dafür, wie schwierig die Bewertung eines Abtausches und der danach entstehenden Position oft ist.
Wir setzen unsere Betrachtung zu Zentrumsformen und den dafür typischen Angriffs- und Verteidigungsplänen aus der vorigen Ausgabe fort.
Hatten wir es dort mit relativ klar definierten Strukturen zu tun, geht es heute um Stellungstypen, bei denen sich die Situation im Zentrum noch ändern
kann.
Dieser Begriff beschreibt Stellungen, für die zwar einerseits eine gefestigte Bauernstruktur kennzeichnend ist, andererseits aber offene und halboffene
Linien existieren. Auch können zentrale Felder durch Figuren besetzt werden, was bei einem geschlossenen Zentrum nicht der Fall wäre. Schließlich ist
immer der Übergang zu einer anderen Zentrumsform möglich, wenn eine Seite einen Bauernhebel in Bewegung setzt.
Der Plan des Angreifers wird darin bestehen, das Zentrum mit Figuren zu besetzen und ausgehend davon dann einen Flügelangriff – bevorzugt gegen den
König – zu starten.
Füster – Simagin, Ungarn 1948
Man könnte meinen, diese Kategorie ist eine Alibi-Variante für alle Stellungen, die man nicht zu den übrigen Klassen rechnen kann. Aber natürlich muss
sich der Spieler immer bewusst sein, dass eine "unfertige" Bauernstruktur im Zentrum sich noch in jede Richtung entwickeln kann. Dann kommt es darauf
an, den dazu passenden Plan "in der Schublade" zu haben und einsetzen zu können.
Vajda – Kotow, 1949
Smyslow – Kotow, Moskau 1943
Es gibt in jeder Schachpartie zwischen zwei Menschen immer noch eine Ebene fernab der rein schachlichen Bewertung einer Stellung. Wer bestimmt
das Geschehen? Wer drückt dem anderen den Zwang auf, sich zu verteidigen? Wer fühlt sich in der Stellung einfach wohler?
Solche Fragen und Gefühle überlagern das rein technische Denken wesentlich und führen oft zu kurios anmutenden Entscheidungen der Spieler. Dabei ist es
eben ganz wichtig, selbst derjenige zu sein, der die Psychologische Initiative ausübt, der dem Gegner seinen Willen aufzwingt.
Wegen des großen Umfangs habe ich dieses Material in ein eigenes Dokument ausgelagert:
Psychologische Initiative – Partiebeispiele
Wir kennen den Quartgriff schon. In Trainingseinheit 15 haben wir die elementaren Bauerndurchbrüche gesehen. Für die Formation mit je 4 Bauern hat
der österreichische Endspiel-Experte Hans Kmoch (1894 – 1973) den Begriff Quartgriff geprägt. Sehen wir uns ein aktuelles Beispiel mit kleinem
taktischem Vorspiel an.
Horvath – Tatar, Ungarn 2011
Der schöne Begriff beschreibt, dass es in vielen Stellungen sehr unterschiedliche Möglichkeiten gibt, das Gleichgewicht zu erhalten. Dies kann auch materielle Ungleichgewichte einschließen, die an der Bewertung der Position nicht viel ändern. Gerade manche Endspiele sind für ihre hohe Remisbreite bekannt, so die Turmendspiele und Endspiele mit ungleichen Läufern.
Beim Teleschach wurden die Züge per Telefon oder Fernschreiber übermittelt. Damit war man deutlich schneller, als klassisches Fernschach per Briefpost.
Mit dem Aufkommen der Internet-Dienste (z. B. Email) verlor das Teleschach schnell seinen Reiz und verschwand. 1978, 1982 und 1990 gab es
sogenannte Teleschach-Olympiaden für Nationalmannschaften auf einem beachtlichen sportlichen Niveau. Die beiden ersten
Austragungen wurden von der Sowjetunion gewonnen, die u.a. solch bekannte Großmeister wie Kasparow, Tal, Gulko, Polugajewski und Beljawski aufbot.
In Erinnerung bleibt vor allem das dritte Turnier – wegen seines kuriosen Ausgangs. Im Finale gewann die Mannschaft der DDR überraschend gegen
den Titelverteidiger. Das wäre einer der größten Erfolge für das ostdeutsche Schach gewesen. Doch wenig später stellte sich heraus, dass beim klaren Sieg der
Russen im Halbfinale gegen Australien nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Der Protest der Australier hatte Erfolg, obwohl zu diesem Zeitpunkt
das Finale bereits gespielt war. Die Sowjetunion wurde nachträglich disqualifiziert und Australien für eine Wiederholung des Finals zugelassen. Doch
da hatten im Zuge der politischen Veränderungen die DDR und ihr Schachverband bereits aufgehört zu existieren…
So kamen die Männer aus "Down Under" auf höchst kuriose Weise zum Titelgewinn.
Man bezeichnet mit diesen Begriffen die Kunst, in einer unklaren Stellung erst einmal "nichts" zu unternehmen. Abwartezüge sind das psychologisch
wirksame Mittel in solchen Stellungen. Man bringt seine Figuren unmerklich in wirksame Positionen, ohne konkrete Drohungen aufzustellen und hofft, dass
der Gegner sich aus Ungedult oder Unverständnis irgendwo eine Blöße geben wird, die man dann angreifen kann. Die große Kunst besteht hierbei darin, die
eigene Stellung nicht zu verschlechtern und die Möglichkeiten des Gegners richtig einzuschätzen.
Der sowjetisch-russischen Schachschule eilt der Ruf voraus, besonders stark im Lavieren zu sein.
Beide Begriffe sind uns schon oft begegnet, deshalb soll hier nur eine kurze Erläuterung des Unterschieds stehen. In beiden Fällen handelt es sich um
konstruierte Stellungen.
Beim Problem lautet die Forderung immer "Matt in n Zügen". Dieses Matt muss in der geforderten Distanz gegen jede erdenkliche Abwehr des
Gegners erreicht werden. Dabei ist immer Weiß am Zuge und setzt mit seinem n-ten Zug matt. Stellungen aus Schachproblemen sind in der Regel so, dass
sie in einer praktischen Partie kaum vorkommen würden. Das Materialverhältnis ist sehr unausgeglichen und die Stellungsmuster sind höchst ungewöhnlich.
Bei Studien lautet die Forderung hingegen "Weiß am Zug gewinnt" oder "Weiß am Zug hält remis". Hier ist die prinzipielle Lösung gefordert,
unabhängig von einer Zugzahl und konkreten Zugfolge.
Die Stellungen einer Studie sind in der Regel deutlich näher an praktischen Partien orientiert, können im schachlichen Alltag durchaus vorkommen. Viele
Studien sind sogar durch die Ausformung eines Motivs entstanden, das ursprünglich einer Turnierpartie entstammt.
Wettbewerbe gibt es in diesem Bereich übrigens sowohl für die Konstruktion ("Komposition") kunstvoller Schachaufgaben als auch für deren Lösung.
Das Reagieren auf aktuelle Ereignisse gehört sonst ja nicht zu unserem Repertoire, doch besondere Leistungen erfordern auch eine besondere Reaktion. Schließlich gilt es den größten Erfolg der jüngeren deutschen Schachgeschichte zu würdigen:
Den Spielern Arkadij Naiditsch, Georg Meier, Daniel Fridman, Jan Gustafsson und Rainer Buhmann gelang ein beeindruckendes
Turnier. Neben schachlicher Höchstform waren wohl der Zusammenhalt im Team und die Unterstützung durch einen zusätzlichen Trainer – Exweltmeister
Rustam Kasimdshanow – wesentliche Gewinnfaktoren.
Die deutschen Spieler verloren nur 2 ihrer 36 Turnierpartien (beide beim 1:3 gegen Bulgarien). In den letzten drei Runden gewannen sie jeweils gegen den
aktuellen Spitzenreiter, jeweils mit 2½:1½ und jeweils mit einer Gewinnpartie und drei Remisen.
Vier bemerkenswerte bzw. entscheidende Partien möchte ich kurz beleuchten.
In Runde 4 trafen die Deutschen auf den aktuellen Olympiasieger, die Ukraine. Dass man dieses Spiel gewinnen konnte, war schon für sich eine Sensation.
Dass es mit 3½:½ einen Kantersieg gab, ist eigentlich unglaublich. Jan Gustafsson gelang dabei eine Partie, die zu den spektakulärsten der
Meisterschaft gehörte.
Gustafsson – Jefimenko, Griechenland 2011
In der 7. Runde begann die Serie der knappen Erfolge gegen den jeweiligen Spitzenreiter mit einem Sieg über Rumänien. Den einzigen Gewinnpunkt steuerte
hier Daniel Fridman bei, der eigentlich für sein ruhiges Spiel auf Sicherheit bekannt ist. Auch bei der EM spielte er in 7 von 8 Partien remis. Sein
einziger Sieg war aber gleichermaßen wichtig wie sehenswert.
Vajda – Fridman, Griechenland 2011
Nach einem Sieg gegen Titelverteidiger Aserbeidshan traf die deutsche Mannschaft zum Schluss auf Weltmeister Armenien. Ein Sieg musste her – gegen
diesen Gegner ein schier aussichtsloses Unterfangen. Am Mittag des Turniertages erklärte ich meinen Schach-Schülern die Ausgangsposition so, dass ich
den Deutschen vor dem Turnier eine Chance von vielleicht 10% auf diesen Sieg eingeräumt hätte. Nach den bis dahin schon starken Leistungen im Laufe der EM
war ich bereit diese Quote auf 12% zu erhöhen…
Doch am Brett wuchsen unsere vier Großmeister wieder über sich hinaus. Für den einzigen Siegpunkt sorgte diesmal Georg Meier.
Movsesian – Meier, Griechenland 2011
Mit Meiers Sieg war die Goldmedaille noch nicht gesichert. Jan Gustafsson musste ein Endspiel mit Minusqualität verteidigen. Erst als ihm das gelungen
war, hatte Deutschland den EM-Titel in der Hand.
Sargissjan – Gustafsson, Griechenland 2011
Gewöhnliche Schachprobleme (also konstruierte Aufgaben) haben Forderungen zum Gegenstand wie Matt in 2 Zügen. Auch Drei- oder Vierzüger sind noch oft zu sehen. Allen diesen Aufgaben ist gemeinsam, dass die Stellungen nichts mit normalem Partieschach zu tun haben. Dennoch werden auch an diese Positionen eine Reihe von Qualitätsanforderungen gestellt. So muss der Weg zum Matt einerseits absolut zwingend sein, andererseits darf es natürlich keine "Abkürzungen" geben. Verpönt sind ferner zusätzliche Figuren und Zugmöglichkeiten, die nur dazu dienen die Lösung künstlich zu verlängern – also sinnloses Dazwischenziehen in ein Schachgebot oder "Racheschachs" bei denen sich Figuren opfern, nur um das Matt des eigenen Königs hinaus zu zögern. Schließlich legt man noch Wert darauf, dass die Stellungen (wenn auch unwahrscheinlich) aus einer realen Partie erspielt werden können. Positionen, auf die das nicht zutrifft, werden als "illegal" bezeichnet.
So nimmt es nicht weiter Wunder, dass solche Mattaufgaben jenseits von 4 Zügen schon recht selten werden, zumal sie ja heute der Prüfung durch moderne
Computerprogramme standhalten müssen.
Andererseits hat sich aber auch eine eigene Spezies von Aufgaben mit extrem hohen Zugzahlen entwickelt. Als bekanntester Autor, der sich solchen
Herausforderungen gestellt hat, gilt der ungarische Ingenieur Otto Blathy (1860 – 1939).
Den "Rekord" hat er weit über die Zahl von 300 Zügen hinaus getrieben. Allerdings erwies sich die Mehrzahl seiner Aufgaben als nicht ganz korrekt, hatte
kürzere Lösungen oder resultiert aus illegalen Stellungen. Auch die 50-Züge-Regel kann man nicht immer berücksichtigen, sonst wären die Partien lange
vor dem Matt mit remis beendet.
Selbst wenn der schachliche Nährwert eher gering ist, wollen wir kurz betrachten, wie diese Aufgaben funktionieren.
Es kristallisieren sich zwei grundsätzliche Ideen heraus:
Zunächst ein Beispiel aus der ersten Gruppe. Hier sind besonders Aufgaben der Art "Allein gegen Alle" eindrucksvoll. Die Stellung gehört zu
Blathys berühmtesten Stücken.
Matt in 16 Zügen, Blathy 1922
Nun zu den zyklischen Zugfolgen. Wollen wir mal versuchen, Blathys 292-Züger zu verstehen. Er gilt immerhin als die längste halbwegs korrekte Aufgabe
dieses Stils – mal abgesehen davon, dass die Ausgangsstellung illegal ist. Um nämlich die Anfangsstellung zu erspielen, brauchen die weißen
Bauern gewiss mehr als vier Schlagzüge, es fehlen aber nur die schwarzen Läufer und Türme.
Matt in 292 Zügen, Blathy 1889
Wenig später veröffentlichte Blathy ein Matt in 257 Zügen, das sehr große Ähnlichkeit zu diesem Beispiel hat, dabei aber eine legale Stellung
bietet. Wir werden viele Ideen aus der vorherigen Besprechung wieder erkennen, weshalb sich der Kommentator etwas beschränken kann.
Matt in 257 Zügen, Blathy 1890
Wir blicken schließlich noch auf eine Aufgabe des Jugoslawen Nenad Petrovic (1907 – 1989). Hierbei soll es sich um die längste derartige
Aufgabe mit legaler Stellung (wenn auch mit drei weißen Läufern) handeln.
Auch Petrovic verwirklicht eine Zyklus-Idee. Hier ist es aber nicht Weiß, der seine Stellung mit den zyklus-freien Zügen verbessert – sondern
Schwarz, der zu einer Verschlechterung gezwungen wird.
Matt in 271 Zügen, Petrovic 1969
Petrovic hatte seine Aufgabe als Matt in 270 Zügen vorgestellt. Computer-Analysen verlängerten den Weg zum Matt um einen Zug, lassen aber selbst dabei
noch einige Fragen offen. Für unser Thema ist das egal, denn die Ungereimtheiten ergeben sich erst in der finalen Phase – und ob es nun 268 oder
271 Züge bis zum Matt sind, spielt keine Rolle. Wir wollten ja nur begreifen, wie solche Aufgaben überhaupt funktionieren.
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